Schaufensterkrankheit: Kritik an hoher Amputationsrate
Der Standard, 12. Oktober 2016
Patienten mit peripherer arterieller Verschlusskrankheit werden mangelhaft versorgt, kritisiert eine AKH-Ärztin
Wien – Sie bleiben scheinbar interessiert vor Schaufenstern stehen und warten: Patienten mit peripherer arterieller Verschlusskrankheit (PAVK). Im Volksmund wird das Leiden Schaufensterkrankheit genannt, weil Betroffene durch den häufigen Stopp vor Geschäftsauslagen die Schmerzen, die sich beim Gehen einstellen, vor ihren Mitmenschen zu verbergen versuchen.
„PAVK ist auf dem Vormarsch. Je mehr die Krankheit fortschreitet, umso stärker steigt auch die Amputations- und Mortalitätsrate“, sagt Andrea Willfort-Ehringer, Leiterin des Katheterlabors der Gefäßmediziner am Wiener AKH.
Für Österreich gebe es derzeit allerdings keine validen Zahlen, wie viele Amputationen jährlich durchgeführt werden. „Wir fordern die Erhebung dieser Daten, etwa in Form eines Amputationsregisters“, so Willfort-Ehringer. Die Expertin muss deshalb auf die Lage in Deutschland mit seinen rund 80 Millionen Einwohnern verweisen. Dort sind es aktuell rund 60.000 Amputationen pro Jahr, Tendenz steigend.
Grobe Versorgungsmängel
Viele dieser Amputationen seien aber nicht notwendig, kritisiert die Medizinerin. In einer aktuellen Studie mit rund 42.000 stationären PAVK-Patienten wurde eine Amputationsrate von zehn Prozent ermittelt. Die Detailanalyse der 4.200 Amputationsfälle legte schließlich grobe Mängel in der medizinischer Versorgung von Gefäßpatienten offen.
„Erschreckend war vor allem die Tatsache, dass bei etwa 40 Prozent der Patienten vor der Amputation weder eine Angiografie stattfand (ein bildgebendes Verfahren, das wichtige Informationen über die Durchblutungssituation der Gliedmaße liefert; Anm.) noch ein Revaskularisationsversuch (Maßnahme, um Durchblutung zu verbessern; Anm.) unternommen wurde. Das ist nicht leitliniengerecht nach dem aktuellen Stand der Medizin und kann heute durchaus als Kunstfehler interpretiert werden“, so Willfort-Ehringer.
Drei statt 17
Die Lösung dieses Problems liegt laut Gerit-Holger Schernthaner, Internist an der Med-Uni Wien, in sogenannten Gefäßzentren, in denen alle für die Versorgung der Patienten involvierten Experten zusammenarbeiten: Gefäßchirurgen, Gefäßradiologen und Gefäßinternisten. Ein weiterer Vorteil: die rund um die Uhr Betreuung, sieben Tage die Woche.
Vor 20 Jahren lag die Fünfjahresmortalität von Patienten mit einer fortgeschrittenen peripheren arteriellen Verschlusskrankheit noch bei nahezu 100 Prozent. Wie eine im September 2016 publizierte Studie zeigte, ist die Überlebensrate mittlerweile deutlich gestiegen: Im niedergelassenen Bereich auf 66 Prozent, in Gefäßzentren liegt sie bei knapp 91 Prozent.
Derzeit gibt es in Österreich an den drei Universitätskliniken Wien, Graz und Innsbruck personell und technisch vollständig ausgestattete Gefäßzentren. Schernthaner zufolge sieht der Entwurf zum neuen Österreichischen Strukturplan Gesundheit ein Zentrum pro 300.000 bis 500.000 Einwohner vor. Um eine flächendeckende Versorgung zu ermöglichen, wären das zumindest 17 Zentren. (gueb, 12.10.2016)